Nature
vivante
Die Baumscheibe ist ein in
alle Richtungen offenes Baumhaus und Beobachtungsplateau, mit dem Ute Reeh einen
Ort intensiver Wahrnehmung inszeniert. Für eine öffentliche Grünanlage
oder einen Park konzipiert, breitet sich eine buchstäblich erhabene, eine
schwebende Ruhezone um einen mächtigen Baumstamm herum aus, auf die man hinaufklettern
kann. Vom Design her dem aktuellen organischen Stil folgend und farblich auffällig,
schwankend nämlich zwischen signalpink und fleischfarben, vermögen die
Baumscheiben anziehend auf Kinder wie Erwachsene, auf Spaziergänger
wie Kunstliebhaberinnen zu wirken: Auf dem Rücken liegend, schauen sie in
die Baumkrone, die sich, je nach Licht, als Gewölbe oder aber wie ein Schattenriss
vor dem Himmel abzeichnen wird. Und wenn sich aus dieser ungewöhnlichen Perspektive
nicht eine gleichsam statische Figur sich verästelnder Linien und ornamentaler
Blattordnungen bildet, dann vielleicht, bei Wind, der Eindruck eines verrückten
Schwankens.
Mit diesem optischen Schwindel erscheint
auch der eigene, vermeintlich gewisse Blick auf das, was Natur genannt wird, destabilisiert.
Um 1900 hatte der nun mit Instrumenten bewehrte Blick das Reich des mikroskopisch
Kleinen erschlossen, das sich, folgen wir dem Zoologen Ernst Haeckel und seinen
in Kupfer gestochenen Kunstformen der Natur (1899-1904), in bild-schönen
Ornamenten zeigte. Bald darauf erkannte der Jugendstil in solchen Stilisierungen
sein mustergültiges Vokabular. Auch fließt in Ute Reehs Baumscheiben
noch die Idee der Romantik vom Gesamtkunstwerk ein, das heißt vom symbolisch
komplexen Zusammenhang von Kunst und Leben. Um 1800 galt die Imagination als das,
was die Welt erschafft und die ideellen Phänomenzusammenhänge stiftet.
In Bäumen und Pflanzen sahen die Romantiker Ikonen subjektiver Naturwahrnehmung,
nicht ohne sie, wie Philip Otto Runge, in Form konstruierter Arabesken zu verallgemeinern
und auf durchaus dekorative Weise zu vermitteln. An
diesem Punkt schließen sich die skulpturalen und für den sozial definierten
Außenraum bestimmten Baumscheiben an eine frühere anwendungsbezogene
Arbeit der Künstlerin an. In Muster/pattern, 1996, überzog Ute
Reeh Alltagsgegenstände, Stoffe, Tapeten, Bildschirme u.a. mit kleinen Frauenakten,
abstraktes Gewimmel aus der Entfernung, erotische Stills aus der Nähe.
Gilt der weibliche Akt traditionell als die mustergültige Figur der Kultivierung
von Materie und Natur, so spielten Reehs Miniaturakte alle möglichen Funktionen
zwischen dekorativer Ästhetik und rezeptionskritisch gewendeter Frivolität
durch je nach Perspektive. Das Entscheidende war jedoch die physische Dimension,
die mit der Verwendung der Objekte wie des Aktbildes ins Spiel kam. Auch die Baumscheibe
greift mit ihrer nachgiebigen Polyurethan-Oberfläche etwas Körperliches
auf und körperlich ist auch ihre Verwendung: sich auszuruhen und zu schauen.
Farblich gesehen überzieht Reeh jedoch jedes organische Rosarot von Haut
und Körperöffnungen ins Schrille und ganz und gar Unübersehbare,
um derart den latenten erotischen Impuls zu steigern. Schließlich ist alles
Sehen, und nicht nur der Voyeurismus, eine Form des Begehrens.
Ute Reeh, die Künstlerin und
Biologin ist, hat mit den Baumscheiben ein Objekt konstruiert, das die
Relation zwischen Körper, Wahrnehmung und Ästhetik zur Grundlage macht.
Allerdings gibt sie den Benutzern und hier setzt sie auf das radikal zeitgenössische
Prinzip der Partizipation kein materialisiertes Seh-Produkt vor, sondern
ihr Objekt ermöglicht eine Wahrnehmungserfahrung. Diese kann ganz beiläufig,
im Vorbeigehen und neugierigen Auspobieren, ihren Anfang nehmen. Worauf es ankommt,
ist die Überschneidung der subjektiven, begehrlichen Ansichten der Umgebung,
und ganz besonders des jeweiligen Baumscheiben-Baumes, mit den historisch
und ideologisch sich wandelnden Bildern von Natur. Denn selbst die Wunschbilder
oder Visionen von Natur sind kulturell kodifiziert und keineswegs
in irgendeinem ursprünglichen Sinn natürlich eine Einsicht, die
Ute Reehs Baumscheibe geradezu physisch vermittelt.
Hanne Loreck
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